Beinachse rechtzeitig korrigieren
Achsfehlstellungen
Selbst wenn Fehlstellungen der Beine lange Zeit keine Beschwerden verursachen, können sie im Kniegelenk durch die Fehlbelastung schwere Schäden verursachen, erklärt Dr. med. Henning Röhl, Spezialist für Endoprothetik, Wechsel- und Revisionsendoprothetik, Deformitätenkorrektur sowie Chefarzt in der Klinik für Orthopädie, Unfall- und Wiederherstellungschirurgie, Diako Mannheim.
Interview: Susanne Amrhein, PRIMO MEDICO
Wie kommt es zu einer Fehlstellung des Knies?
Dr. Röhl: „Zunächst muss bemerkt werden, dass X- oder O-Beine bei Kindern bis zum Erreichen des Grundschulalters relativ häufig auftreten und sich in der Regel spontan korrigieren. Im Erwachsenenalter treten entweder verbliebene Achsfehlstellungen der Knie auf, die dann natürlich schon junge Erwachsene betreffen und zunächst lange ohne Beschwerden bleiben. Dies tritt häufig beidseitig auf und bei einem auffälligen Befund ist davon auszugehen, dass die Knie darunter leiden und vorzeitig einen Gelenkverschleiß entwickeln. Oder es kommt zur Ausbildung eines sogenannten „sekundären“ Achsfehlers. Das bedeutet, die betroffene Person hatte mit Abschluss des Wachstums gerade Beine und entwickelt typischerweise erst irgendwann nach dem 40. Lebensjahr eine langsam zunehmende Verformung der Beinachse. Dies kann einseitig oder beidseitig auftreten und fällt den Betroffenen häufig lange nicht auf, da sich die Verformung recht langsam ausbildet. Die dritte Form einer Achsfehlstellung tritt in Folge eines Unfalls entweder direkt oder häufig rasch zunehmend innerhalb des ersten Jahres nach dem Unfall auf.“
Warum sollte eine Fehlstellung der Beinachse korrigiert werden?
Dr. Röhl: „Das tückische ist, dass eine Fehlstellung der Beinachse nicht sofort Beschwerden verursacht. Wenn junge Erwachsene eine bestehende Beinachs-Deformität ohne akute Beschwerden haben, spricht man von einer ‚präarthrotischen Deformatität’. Durch die damit einhergehende ungleiche Belastung im Kniegelenk können dementsprechend allerdings Verschleißerscheinungen entstehen. Wenn insbesondere junge Patienten erst kommen, wenn sie Schmerzen verspüren, ist der Schaden im Gelenk meist fortgeschritten. Daher ist es wichtig, dass eine Beinachsenfehlstellung im jungen Erwachsenenalter, vor Vollendung des 40. Lebensjahres, erkannt und korrigiert wird. Nur so kann durch Korrektur der Fehlbelastung die Entstehung einer Arthrose in den meisten Fällen verhindert werden.“
Kann die Beinachse auch ohne Operation korrigiert werden?
Dr. Röhl: „Bei geringgradigen Achsfehlstellungen von 2 bis 3 Grad können Schuh-Einlagen helfen, die mechanische Belastung vorteilhaft zu verändern. Beinschienen, sogenannte ‚Orthesen’ werden nur verwendet, um Instabilitäten zu korrigieren. Falls sich ein O-Bein entwickelt, kann eine Orthese durch den Druck, den sie ausübt, eine Haltungskorrektur bewirken. Auf lange Sicht wird dies aber von den Patienten als unangenehm empfunden und keine Heilung oder dauerhafte Korrektur bewirken. Ab Achsfehlstellungen von mehr als 5 Grad lassen sich mit konservativen Maßnahmen keine zufriedenstellenden Ergebnisse mehr erreichen.“
Wie kann die Beinachse chirurgisch gerichtet werden?
Dr. Röhl: „Früher hat man dazu die Knochen quasi gebrochen und dann die Achse korrigiert. Heute haben wir dafür sehr viel schonendere Verfahren. Im Grunde ist es eine recht einfache Korrektur, Knochen sind sehr viel elastischer als man denkt. Möglich ist zum einen, den Knochen nur teilweise einzuschneiden, um ihn dadurch biegsam zu machen und anschließend zu begradigen. Um die neue Stellung zu fixieren, wird eine kleine Metallplatte eingesetzt. Dies führt dazu, dass das korrigierte Bein sofort zumindest teilbelastbar ist. Bei älteren Patienten, bei denen das Knorpelpolster Schaden genommen hat, macht es Sinn, den verlorenen Knorpel zu ersetzen. Dies geschieht in der Regel durch einen Teilgelenkersatz mit sogenannten „Schlittenprothesen“. Bei diesem Eingriff wird auch die Beinachse gerichtet. Bei drastischen Deformitäten bis zu Fehlstellungen von 30 bis 35 Grad und stark geschädigtem Gelenkknorpel kann die Funktion durch das Einsetzen eines künstlichen Kniegelenks wiederhergestellt werden. Auch hier wird die Beinachse während desselben Eingriffs gerichtet.“
Wie belastend ist eine Beinachskorrektur für die Patienten?
Dr.Röhl: „Dank der heute weit verbreiteten minimal-invasiven Chirurgie, die je nach Art des Eingriffs am Knie nur noch Schnitte von wenigen Zentimetern erfordert, ist eine Beinachskorrektur bei weitem nicht mehr so ein belastender Eingriff wie früher. In spezialisierten Kliniken wie der unseren, wird außerdem Wert auf eine rasche Rehabilitation gelegt. Das bedeutet, dass unsere Patienten am Tag der Operation direkt wieder aufstehen können und ihre ersten Schritte gehen. Je nach Verfahren können die Patienten danach in den meisten Fällen direkt wieder unter Vollbelastung laufen. Für junge und sportlich aktive Menschen bedeutet das, schon nach wenigen Wochen wieder in ihr alltägliches Umfeld zurückkehren zu können. Wie schonend moderne Operationsverfahren sein können zeigt sich daran, dass wir auch 80- oder 90-jährige Patienten, die Ihre Mobilität verloren haben, sicher wieder zu einer guten Gelenkfunktion verhelfen können. Wenn Patienten dies nicht wünschen, muss im Anschluss an eine solche Operation auch kein stationärer Aufenthalt in einer Rehabilitationsklinik folgen. In der Regel werden Krücken zur persönlichen Sicherheit beim Gehen verwendet und eine Übungsbehandlung kann im Rahmen von wiederkehrenden Besuchen beim Physiotherapeuten erfolgen. Je nach Ausmaß der körperlichen Belastung im Rahmen der eigenen beruflichen Tätigkeit können Patienten häufig schon sehr rasch nach der Operation wieder an Ihren Arbeitsplatz zurückkehren. Übt ein Patient jedoch eine körperlich sehr anspruchsvolle Tätigkeit aus, muss bis zur vollständigen Wiederherstellung mit 3 Monaten kalkuliert werden. Danach können zuvor ausgeübte Sportarten wieder begonnen werden.“
Welche Vorteile hat eine Korrektur der Beinachse im Vergleich zum Gelenkersatz?
Dr. Röhl: „Eine Beinachsenkorrektur ist bei geringgradigen Achsfehlern und bei beginnender Arthrose eine gute Möglichkeit, einen späteren Gelenkersatz zu vermeiden. Grundsätzlich ist eine Beinachsenkorrektur in allen Phasen des Gelenkverschleißes möglich. Wer die Implantation eines künstlichen Gelenks scheut, findet so häufig eine sehr gute Alternative. Die Möglichkeit eines Gelenkersatzes bleibt immer noch. Schwierig wird es, wenn Patienten bereits lange Zeit mit Beschwerden leben. Wer seit 10 Jahren mit schweren O-Beinen herumläuft, dessen Kniegelenk ist meistens zu stark geschädigt, um es auf Dauer zu erhalten. Das gilt nicht nur für ältere, sondern häufig auch schon für junge Menschen.“
Wie lange sind die Patienten nach einer Achskorrektur arbeitsunfähig?
Dr. Röhl: „Bei einfachen Eingriffen mit einer reinen Achskorrektur und/oder einem Teilgelenkersatz können Patienten nach 6 bis 8 Wochen in einen Beruf, der längeres Stehen erfordert, zurückkehren. Bei sitzenden Tätigkeiten ist es sogar nach 2 Wochen möglich. Bei schweren körperlichen Arbeiten, die auf den Knien oder mit starker Kniebeugung erfolgen, wie Maurer oder Fliesenleger, ist eine längere Reha-Phase notwendig. Diese kann 3 bis 4 Monate dauern.“
Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass nach einer Achskorrektur später doch ein Gelenkersatz erfolgen muss?
Dr. Röhl: „Das kommt auf die Schädigung des Gelenks an. Aus diesem Grund empfehle ich, Achsverformungen bei Patienten mit gesundem Kniegelenk möglichst früh vorzunehmen, bevor das eigene Gelenk schaden nimmt. Für diese Patienten kann die Beinachsenkorrektur eine lebenslange Lösung darstellen. Bei einer vorliegenden Arthrose oder einseitigen Schäden kann auch eine Schlittenprothese eine dauerhafte Lösung darstellen. Diese Teilprothesen weisen in vielen Fällen Standzeiten von 20 bis 25 Jahren auf, einige sogar noch länger. Grundsätzlich gilt, wer rechtzeitig auf eine Korrektur der Beinachse achtet, hat deutlich bessere Chancen, ohne Gelenkersatz durchs Leben zu kommen.“
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