Maßgeschneiderte Behandlungskonzepte für jeden Patienten
Ärztlicher Direktor des Evangelischen Krankenhaus Hubertus, Leiter des Gefäßzentrums Berlin-Brandenburg, Chefarzt Klinik für Gefäßchirurgie und endovaskuläre Therapie
Gefäßchirurgie
Zum ProfilIndividualisierte Medizin
Wie sich Krankheiten in unserem Körper entwickeln und auswirken, hängt von verschiedenen Faktoren ab, u.a. vom Erbgut, Lebensstil oder Alter. Aus diesem Grund rückt auch eine individualisierte Gesundheitsversorgung immer stärker in den Vordergrund. Prof. Dr. med. Ernst Weigang, Chefarzt der Klinik für Gefäßchirurgie und endovaskuläre Therapie im Evangelischen Krankenhaus Hubertus in Berlin hat als Mitglied des Expertengremiums an dem acatech Positionspapier „Individualisierte Medizin durch Medizintechnik“ der Deutschen Akademie der Technikwissenschaften mitgearbeitet. Ziele der Initiative sind eine verbesserte Patientenversorgung sowie ein leistungsfähiges Gesundheitssystem.
Interview: Susanne Amrhein, PRIMO MEDICO
Warum wird eine individualisierte Medizin immer wichtiger?
Prof. Weigang: Wir haben es in unserer Gesellschaftsstruktur mit einer immer älter und kränker werdenden Bevölkerung zu tun. Es ist wichtig, dass Medizin sich diesen veränderten Rahmenbedingungen anpasst und individuelle Therapieformen entwickelt. Das Gießkannenprinzip nach dem Motto „One size fits all“ funktioniert nicht mehr. Im Rahmen einer angemessenen Altersmedizin müssen gerade für die älteren und kranken Patienten individuelle Behandlungskonzepte erarbeitet, mit ihnen besprochen und anschließend umgesetzt werden. Dies ist in unserem Fachbereich Gefäßchirurgie sehr wichtig. Wir sind seit Jahren dazu übergegangen, immer mehr minimalinvasiv, endovaskulär und sogar komplett perkutan zu arbeiten und benutzen so immer weniger das Skalpell um die Gefäße zu reparieren. Die Methode, bei der ein Gefäß als Zugang verwendet wird, ist für unsere Patienten deutlich schonender und weniger belastend: Die Rekonvaleszenz ist wesentlich kürzer, wir können die Patienten schneller mobilisieren und in ihre häusliche Umgebung entlassen.
Welche technischen Innovationen ermöglichen eine individualisierte Medizin?
Prof. Weigang: Im Hinblick auf die Gerätemedizin hat sich sehr viel getan. Wir haben im Hubertus Krankenhaus im Jahr 2014 einen neuen Operationsbereich bezogen, in dem ein hochmoderner Hybrid-Operationssaal eingerichtet wurde. Hier wurden gerade für die minimalinvasive Behandlung der älteren und kranken Patienten hervorragende Bedingungen geschaffen. In unserem Hybrid-Operationssaal sind verschiedene Arbeitsbereiche vereint. Neben der normalen OP-Ausstattung verfügen wir über eine hochmoderne Angiografie-Einheit, mit der wir während der Operation eine höchstmögliche Bildqualität gewährleisten können. Diese Anlage ist nicht nur für intraoperative Angiografien geeignet, sondern kann auch CT-ähnliche Bilder und sogar dreidimensionale Bilder erzeugen. Zudem ist eine digitale intraoperative Fusion der Bildmaterialien, die im Vorfeld diagnostisch von dem Patienten erstellt wurden, mit den intraoperativen Echtzeit-Bildern möglich. Dank dieser Ausstattung stehen uns hochstehende technische Möglichkeiten zur Verfügung, um unsere Patienten minimalinvasiv und schonend zu behandeln.
Der zweite Ansatz in Bezug auf eine individuelle Medizintechnik in unserem Fachbereich betrifft die „maßgeschneiderten“ Prothesen und Stentgraftprothesen, die wir für unsere Patienten individuell herstellen lassen. Wir arbeiten mit verschiedenen internationalen Herstellern auf diesem Gebiet eng zusammen, die individuelle Produkte herstellen, die optimal zu den anatomischen Voraussetzungen unserer Patienten passen. So können wir auch langfristig perfekte Ergebnisse erzielen.
Der dritte Punkt, der mit Hilfe moderner Medizintechnik möglich ist, betrifft den biologischen Gefäßersatz. Dank neuer Materialien können wir Implantate aus Kunststoff weitgehend vermeiden. Unsere Devise ist, möglichst wenig Fremdmaterial im Körper zu hinterlassen und wann immer möglich, körpereigenes Material zu verwenden. Sollte dies nicht möglich sein, haben wir die Möglichkeit auf biologische Gefäßprothesen oder sogenannte „Patches“ (Erweiterungsflicken), die in Schafen oder anderen Tieren gezüchtet werden, zurückzugreifen. Biologisches Material ist für den Körper wesentlich besser verträglich.
Individuelle Diagnose- und Behandlungskonzepte sind i.d.R. um ein Vielfaches aufwändiger. Wie können sie in der Praxis umgesetzt werden?
Prof. Weigang: Individuelle Diagnose- und Behandlungskonzepte sind definitiv aufwändiger für die Behandlungsteams. Um interdisziplinäre Behandlungskonzepte zu erstellen, müssen fachbereichsübergreifende „Medical-Boards“ etabliert werden. Bei uns im Gefäßzentrum Berlin-Brandenburg nutzen wir Fachgremien, in denen neben uns Gefäßchirurgen auch Angiologen und Radiologen vertreten sind. Hier wird jeder einzelne Patient, der bei uns im Gefäßzentrum ambulant oder stationär vorgestellt wird, interdisziplinär besprochen. Anschließend erarbeiten wir gemeinsam die bestmögliche, leitliniengerechte Therapie und erläutern sie den Patienten. Grundsätzlich versuchen wir, die Patienten so lange es geht konservativ zu behandeln, z.B. durch Gehtraining, in Reha- oder Gefäßsportgruppen. Zur Unterstützung der konservativen Therapie erstellen wir einen individuellen Medikamentenplan. Führen diese Maßnahmen nicht zum Erfolg, ist die nächste Eskalationsstufe eine minimalinvasive Kathetertherapie (Ballondilatation / PTA plus ggf. Stentimplantation). Erst als letzte Möglichkeit ziehen wir eine offene, gefäßchirurgische Behandlung in Betracht.
Für die Zukunft ist wichtig, dass diese individuellen Therapieoptionen und Abläufe nicht nur intern bei uns im Gefäßzentrum umgesetzt werden, sondern auch die Zusammenarbeit mit den Krankenkassen und dem Medizinischen Dienst möglichst unkompliziert gestaltet wird. Im Moment ist es noch so, dass wir viele individuelle Therapieformen mit den Krankenkassen in einem langwierigen Prozess abstimmen und genehmigen lassen müssen, weil sie teurer sind als Standard-Therapien. Sofern die Krankenkasse nicht selbst über fachkundige Mitarbeiter verfügt, leitet sie die Anträge an den medizinischen Dienst weiter. Dieser überprüft dann in einem Gutachten, inwieweit die individuelle Therapie und Kosten gerechtfertigt sind. Die Zeit, die dafür benötigt wird, haben unsere Patienten aber nicht immer – viele kommen mit akuten Erkrankungen zu uns. Hier würde ich mir eine Vereinfachung wünschen, damit die individuelle Therapie für unsere Patienten auch schnellstmöglich umgesetzt werden kann.
Individuell angefertigte Implantate sind erheblich teurer als Standardmodelle – wer soll die Kosten tragen?
Prof. Weigang: Die Standardprodukte sind als Sachkostenanteil in der DRG (diagnose related groups) implementiert. Alles, was darüber hinausgeht, muss – wie zuvor beschrieben – bei der Krankenkasse eingereicht, begründet und genehmigt werden. Dies betrifft zum Beispiel individuell hergestellte Prothesen oder Stentgraftprothesen. Die meisten Patienten können und wollen die Mehrkosten für individuelle Produkte nicht tragen, daher sehe ich die Kostenverantwortung bei den Krankenkassen. Ein Stentgraft für einen Patienten mit einer Aussackung der Hauptschlagader (Aortenaneurysma) kostet als Standardversion bereits zwischen 6.000 bis 10.000 Euro. Wenn der Patient eine individuell hergestellte Stentgraftprothese benötigt, betragen die Kosten mehr als das Doppelte, manchmal sogar das Drei- oder Vierfache. Bis eine Kostenübernahme bestätigt wird, vergehen in der Regel Wochen. Erst danach können wir die Prothesen tatsächlich in Auftrag zur Herstellung geben.
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