Mehr Lebensqualität dank Stressmedizin
Stress
Wer unter anhaltendem Stress leidet, riskiert nicht nur psychische, sondern auch körperliche Beeinträchtigungen, erklärt Prof. Dr. med. Uwe Nixdorff, Kardiologe, Inhaber der Kardiologischen Privatpraxis und Leiter des European Prevention Center (EPC) in Düsseldorf.
Interview: Susanne Amrhein, PRIMO MEDICO
Was sind typische Anzeichen für Stress?
Prof. Nixdorff: „Zunächst ist es wichtig, zwischen akutem und chronischem Stress zu unterscheiden. Akuter Stress, während einer Prüfungsphase oder nach persönlichen Schicksalsschlägen, ist normal. Aber dieser Stress flaut irgendwann wieder ab. Chronischer Stress dagegen ist ein typisches Problem unserer Zeit: Eine anhaltende, hohe Arbeitsbelastung, Mobbing im Job oder private Probleme. Diese äußern sich irgendwann als Erschöpfung und Müdigkeit. Häufig finden stressgeplagte Menschen keinen Schlaf. Durch die fehlende Erholung in der Nacht können sie ihre Ressourcen nicht mehr auffüllen. Infolgedessen mangelt es häufig an Konzentration bei der Bewältigung von Aufgaben. Aber Stress ist weitaus mehr als ein Problem der Psyche. Ich, als Kardiologe, habe dabei natürlich vor allem die kardiovaskulären Auswirkungen im Blick: Dazu gehört ein erhöhter Puls. Viele Stresspatienten klagen über starkes Herzklopfen. Ein stressbedingt erhöhter Blutdruck kann zu Kopfschmerzen und Schweißausbrüchen führen.“
Kann auch positiver Stress, wie die Geburt eines Kindes oder eine bevorstehende Hochzeit, Probleme bereiten?
Prof. Nixdorff: „Nein. Wir unterscheiden zwischen positivem Stress (Eustress) und negativem Stress (Disstress). Eustress beflügelt eher, als dass er schadet. Grundsätzlich kurbelt Stress unsere Reaktionsfähigkeit an. Das war schon bei den Steinzeitmenschen so: Wenn sie einem Säbelzahntiger gegenüberstanden, schoss ihr Stresslevel nach oben und das war lebenswichtig. Denn sie mussten innerhalb von Sekunden entscheiden, ob sie besser fliehen oder kämpfen sollten, um zu überleben. Chronischer Disstress dagegen führt häufig zu den bereits erwähnten Symptomen und sollte behandelt werden.“
Ab wann sollte man Stress behandeln lassen?
Prof. Nixdorff: „In dem Moment, in dem jemand unter Stress leidet, ist der Zeitpunkt gekommen, zum Arzt zu gehen und eine Diagnose anzustreben. Das ist bei den meisten Menschen der Fall, wenn sich neben der psychischen Belastung eine anhaltende, gedrückte Stimmung und körperliche Symptome bemerkbar machen. Wir sind heute in der glücklichen Lage, über eine anerkannte Stressmedizin zu verfügen. Das heißt, für die Stressbehandlung ist nicht zwangsläufig der Gang zum Psychologen oder Psychiater erforderlich. Sondern Stressmedizin umfasst ein ganzheitliches, interdisziplinäres Behandlungskonzept. Und ganz wichtig: Wir behandeln keine Symptome, sondern wir bemühen uns, die ursprünglichen Probleme zu ergründen und zu beheben.“
Wie ermitteln Sie Stressursachen?
Prof. Nixdorff: „Unser Diagnose-Konzept besteht aus drei Säulen zum Nachweis einer Stressproblematik: Die erste Säule besteht aus einem Katalog von rund 150 Fragen, um die gesamte Krankengeschichte des Patienten zu erfassen (individuelle Anamnese und auch standardisierte Fragebögen wie den ‚Kopenhagen Burnout Inventory’). Die zweite Säule basiert auf der sogenannten Herzratenvariabilität (HRV), die mit Hilfe eines schmerzlosen, hochauflösenden EKG (Elektrokardiogramm) über 72 Stunden inkl. Messung des Schlafverhaltens gemessen wird. Das Herz schlägt niemals völlig gleichmäßig. Ruhigere und schnellere Phasen sind ein wichtiges Indiz dafür, dass der Körper auf verschiedene Situationen reagieren kann. Wie wichtig eine Variabilität der Herzrate ist, hat der chinesische Arzt Wang-Shu-he schon im 3. Jahrhundert nach Christus erfasst. Er sagte: ‚Wenn das Herz so regelmäßig wie das Klopfen eines Spechtes oder das Tröpfeln des Regens auf dem Dach schlägt, wird der Patient innerhalb von 4 Tagen sterben.’ So schlimm ist es bei Stresspatienten natürlich nicht. Aber die HRV ist ein wichtiger Baustein bei der Feststellung von Stresserkrankungen. Die dritte Säule basiert auf biochemischen Untersuchungen. Mit Hilfe einer Urinprobe sind die Mengen verschiedener Neurotransmitter wie das agitatorische Adrenalin und Noradrenalin (bei Stressoren erhöht), aber auch der Gegenspieler Serotonin (das sogenannte ‚Glückshormon’, bei Stressoren erniedrigt) nachweisbar. Den Cortisolwert erhalten wir durch mehrere Speichelproben, die über den Tag verteilt genommen werden. Die Auswertung sämtlicher Proben ergibt im Gesamtbild ein Cortisol-Tagesprofil. Dieses zeigt, ob der Patient an Erschöpfung leidet oder bereits ein Burnout-Syndrom entwickelt hat. Mit Hilfe dieser drei Säulen lässt sich eine klare Diagnose stellen. Die Auswirkungen von Stress mit Identifikation von gezielten Behandlungsansätzen werden durch die medizinischen Daten klar belegt.“
Was hilft gegen Stress?
Prof. Nixdorff: „Im Rahmen der Stressmedizin behandeln wir sowohl die psychischen als auch die biochemischen und biophysikalischen Veränderungen, die durch Stress ausgelöst werden. Unser Hauptansatz zur Behandlung von Stresserkrankungen ist das sogenannte ‚VARESE’-Prinzip:
- V steht für Verhaltensänderung. Diese Therapie wird ggf. von Coaches übernommen, um eingefahrene Denkmuster zum Umgang mit Stress positiv zu verändern.
- A steht für Achtsamkeit. Diese Übungen orientieren sich an den Achtsamkeitsmeditationen des US-Professors Jon Kabat-Zinn.
- R bedeutet Relaxation. Dies können regelmäßige Yogaübungen oder Kurzpausen im Alltag sein.
- E steht für Ernährungsumstellung. Leider neigen gestresste Menschen dazu, sich schlecht zu ernähren. Sie greifen häufiger zu ungesunden Snacks und Fast Food und tendieren zu einem Suchtverhalten – sei es Alkohol oder Zigaretten. Bei älteren Menschen kommen Mikronährstoffmängel hinzu. Häufig sind Vitamin D und Omega 3 Fettsäuren betroffen.
- Das S in VARESE steht für Sport. Gestresste Menschen bewegen sich zu wenig. Wir raten dringend zu Sport im aeroben Bereich. Dies bedeutet eine lockere, moderate Bewegung, wie beim Nordic Walking. Zudem ist seit einiger Zeit die zusätzliche Bedeutung von Krafttraining absolut evident geworden.
- Das zweite E steht für Ergänzung. Bei Stresspatienten stellen wir häufig einen Serotoninmangel fest; ggf. bestehen auch Mikronährstoffdefizite Diese können durch Gabe von entsprechenden Nahrungsergänzungsmitteln ausgeglichen werden. Hierbei ist die vorangehende Messung und Kontrolle im Blut notwendig. Die unkontrollierte Einnahme von frei käuflichen Multivitaminpräparaten ist nicht sinnvoll und kann nach neueres Studien sogar schädlich sein.“
Gibt es Medikamente gegen Stress?
Prof. Nixdorff: „Nahrungsergänzungsmittel und Supplementierungen gegen Serotoninmangel hatte ich bereits erwähnt. Wenn Patienten durch die anhaltende Stressbelastung und Erschöpfung bereits eine Depression entwickelt haben, können vorübergehend Antidepressiva helfen. Ist das Herz durch den chronischen Stress stark belastet, kann man auch überlegen, Beta-Blocker zu verschreiben. Allerdings sollte der Einsatz von Psychopharmaka und anderen Medikamenten grundsätzlich sowohl gut bedacht als auch überwacht werden.
Werden Stress und seine Auswirkungen in unserer Gesellschaft zu sehr herunter gespielt?
Prof. Nixdorff: „Ich habe den Eindruck, dass für Stresserkrankungen sehr wohl ein Bewusstsein besteht. Anders als Depressionen wird Stress weniger tabuisiert. Das liegt vielleicht daran, dass man Stress automatisch mit Menschen verbindet, die Großes leisten. Faule Menschen haben keinen Stress oder einen Burnout. Daher ist die Akzeptanz von Stresserkrankungen größer. Das bemerke ich regelmäßig, wenn ich mit Firmenleitungen über die Stressbelastung ihrer Mitarbeiter spreche. Wir sind im Rahmen unserer Stressmedizin und Prävention ja nicht nur für Einzelpersonen tätig, sondern betreuen ganze Unternehmen. Dabei haben wir mit unserer integrativen Stresstherapie, der Zusammenarbeit mit einem Coaching Netzwerk und auch psychosomatischen Kliniken bereits gute Erfolge vorzuweisen.“
Prof. Dr. med. Uwe Nixdorff ist Mitautor des Fachbuchs „Stressmedizin und Stresspsychologie: Epidemiologie, Neurobiologie, Prävention und praktische Lösungsansätze", 19.9.2020, Schattauer Verlag.
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