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Die Skoliosebehandlung im Umbruch - Wann ist eine Operation notwendig?

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PRIMO MEDICO Fachredaktion

Ein Beitrag von Dr. med. Hans-Rudolf Weiß

Als Skoliose bezeichnet man eine Seitverbiegung der Wirbelsäule (1, 2). Diese geht in der Regel mit einer Verdrehung der einzelnen Rumpfabschnitte gegeneinander einher, ebenso wie mit einer Veränderung des Seitprofils (Seitansicht). Daher spricht man von einer dreidimensionalen Rumpf- und Wirbelsäulendeformität (Abb. 1.). Die Ausprägung der Deformität wird einerseits klinisch mit einer speziell konzipierten Wasserwaage (Scoliometer nach Bunnell) und / oder auch am Röntgenbild (Krümmungswinkel nach Cobb) gemessen (3, 4).

Abb1 Scan einer Skoliosepatientin in drei AnsichtenAbb. 1.
Scan einer Skoliosepatientin in drei Ansichten.
Zu erkennen ist die Seitabweichung des Rumpfes,
der Rippenbuckel und die Höhlung der Brustwirbelsäule.

Skoliosen können sich während Phasen verstärkten Wachstums verschlechtern (2, 5). Dies betrifft vornehmlich die Wachstumsphase im Pubertätsalter. In dieser Wachstumsphase sind im ungünstigsten Fall Verschlechterungen von 20 bis 30° innerhalb weniger Wochen möglich (Abb. 2.) (4).

Die meisten Skoliosen sind eher von kosmetischer Bedeutung, d.h. schwerwiegende Gesundheitsstörungen sind in den meisten Fällen nicht zu erwarten (2, 6). Nur ein sehr geringer Prozentsatz aller Skoliosen läßt eine Krümmungszunahme auf mehr als 100° erwarten, eine Krümmungsausprägung welche zu einer verkürzten Lebenserwartung führen kann (7, 8).

Bild Skoliose mit KrümmugszunahmeAbb. 2.
Deutliche Krümmungszunahme um 20° innerhalb von drei Wochen.
Solch drastische Krümmungszunahmen innerhalb so kurzer Zeit sind allerdings recht selten.

In den gängigen Lehrbüchern ist folgende Behandlungsempfehlung für das Wachstumsalter nachzulesen (9, 10):

  • Bei Krümmungen von 15 – 20° (25°) Krankengymnastik
  • Bei Krümmungen von 20 – 40° (45°) Krankengymnastik und Korsett
  • Bei Krümmungen von > 45° operative Versteifung der Wirbelsäule

Diese Behandlungsempfehlung ist seit Jahrzehnten überliefert, basiert allerdings nicht auf wissenschaftlichen Studien.

Im letzten Jahrzehnt sind neue Erkenntnisse gewonnen worden. Daher scheit es an der Zeit die althergebrachten Behandlungsempfehlungen zu überprüfen.

Die Evidenz basierte Medizin (EBM – Beweis gestützte Medizin)

Die Evidenz basierte Medizin kennt eine qualitative Abstufung von Studien geringer Beweiskraft (Stufe IV) bis hin zu Studien höchster Beweiskraft (Stufe I). Im Allgemeinen werden nur hochwertige Studien für die Leitlinien zur Behandlung bestimmter Erkrankungen berücksichtigt. Das sind so genannte prospektive kontrollierte Untersuchungen (Stufe II) und so genannte randomisierte kontrollierte Untersuchungen (Stufe I).

Die Evidenz in der Skoliosebehandlung

Für die spezifische (korrigierende) Physiotherapie, wie auch für die Korsettversorgung liegen Studien höchster Beweiskraft vor (Stufe I und II) (11-14). Für die Skolioseoperation jedoch nicht (15-17). Zudem hat sich mittlerweile herausgestellt, dass die Langzeitkomplikationen der gängigen Operationen die möglichen Komplikationen der nicht operierten Skoliose bei weitem übersteigen (15, 18, 19). Es ist bekannt geworden, dass sich die Deformität des Rumpfes (Rippenbuckel) ein Jahr nach der Operation wieder verstärkt (Abb. 3.) (15).

Bild Spätresultat einer Skoliose Operation

Abb. 3.
Spätresultat einer Skolioseoperation über den seitlichen Zugang.
Die Krümmung wurde im Röntgenbild sehr gut aufgerichtet (links).
Der Rippenbuckel ist allerdings innerhalb eines Jahres nach der Operation wiedergekehrt (Bild Mitte rechts und rechts).
Am rechten Schulterblatt (Bild, Mitte rechts) ist noch der obere Bereich der seitlich verlaufenden Narbe zu erkennen.

In einer neueren Langzeitstudie (20) zeigte sich, dass operativ behandelte Skoliosepatienten etwas häufiger an Schmerzen litten als im Jugendalter mit einem Korsett versorgte Patienten mit Skoliose. Vollkommen unbehandelte Patienten litten demgegenüber etwas häufiger unter Schmerzen. Zudem verstärkt sich das Auftreten von Schmerzbeschwerden mit zunehmender Zeit nach der Operation (21). Daher besteht rein wissenschaftlich gesehen keine Begründung für eine Skolioseoperation zur Vorbeugung gegen Schmerzen. Auch die anderen Zeichen und Symptome einer Skoliose lassen sich durch eine Operation nicht sicher beseitigen. Darauf haben mehrere Autoren hingewiesen (15, 17, 22, 23).

Der Paradigmenwechsel zur konservativen Skoliosebehandlung

Durch die Erkenntnisse des letzten Jahrzehnts hat sich ein Paradigmenwechsel hin zur konservativen (nichtoperativen) Skoliosebehandlung ergeben. Moderne konservative Behandlungsverfahren (hier steht die qualitativ hochwertige Korsettversorgung im Vordergrund) vermögen nicht nur die Krümmungszunahme im Wachstumsalter aufzuhalten. Heutzutage strebt man eine Verbesserung der Rumpfdeformität und auch eine Krümmungsaufrichtung im Röntgenbild an (Abb. 4.).

Abb4 Gute Aufrichtung der Rumpfdeformität Abb. 4.
Gute Aufrichtung der Rumpfdeformität durch eine qualitativ hochwertige Korsettversorgung.
Links deutliche Seitabweichung mit Rippenbuckel, rechts nach Korsettversorgung Verringerung
des Rippenbuckels und auch der Seitabweichung.

Die Korsettversorgung kann heutzutage unproblematisch sein. Leider ist der Versorgungsstandard in Deutschland und auch weltweit noch sehr uneinheitlich. Versorgungszentren mit einem überdurchschnittlichen Standard sind leider in der Minderzahl. Schmerzen im Korsett sollten heute der Vergangenheit angehören (4). Leider werden Patienten und deren Eltern heute immer noch häufig dahingehend beraten, dass Schmerzen im Korsett dazugehören und auszuhalten sind.

Das Gensingen Brace nach Dr. Weiss (GBW) ist heute relativ klein, hoch korrigierend und dabei dennoch bequem (Abb. 5.), ein Standard, der immer noch Seltenheit hat. Die neusten Serien von CAD / CAM (Computer Aided Design / Computer Aided Manufacturing) basierten Korsetten können ohne Gipsabdruck hergestellt werden. Man benötigt zur Korsettanpassung nur noch einen Scan des Patientenkörpers (Abb. 1.).

Skoliose Korsett BildAbb. 5.
Sehr gute Krümmungsaufrichtung in einem GBW Korsett (Gensingen Brace nach Dr. Weiss).
Das Korsett ist relativ klein, hoch korrigierend aber dennoch bequem. Es handelt sich um ein
standardisiertes CAD Korsett mit digitaler Korsettanpassung. Für den Laien sichtbar ist die Spiegelung des Krümmungsmusters im Korsett. Dies ist das sichtbare Zeichen einer guten Krümmungskorrektur.

Die Betroffenen und deren Eltern sind allerdings gut beraten sich nicht der nächstbesten Werkstätte anzuvertrauen. Die Skoliosebehandlung erfordert große Erfahrung, die aufgrund der Seltenheit der Erkrankung nicht allen Orts gewonnen werden kann. Vor Abschluss eines Behandlungsvertrags sollte man sich die am Ort üblichen Versorgungen zeigen lassen. Spiegelt das Korsett das Krümmungsmuster nicht deutlich (Abb. 5 und 6) sollte man von einer Versorgung vor Ort Abstand nehmen.

Ein weiterer wichtiger Punkt ist die zeitnahe Korsettversorgung im Wachstumsalter. Im Hauptwachstumsschub sind Krümmungszunahmen innerhalb weniger Wochen möglich (Abb. 2). Daher versorgen wir mit dem GBW bei Bedarf innerhalb von einer Woche.

Abb. 6.
Ein gutes Korsett zeichnet sich durch eine Spiegelung des Krümmungsmusters aus (a,b). Die anderen abgebildeten Korsetts (c-e) sind alle für das gleiche Krümmungsmuster gebaut, spiegeln aber das Krümmungsmuster nicht. Sie korrigieren deutlich schlechter und sind gleichzeitig unbequemer. Sie sind schwerer und führen meist durch wenig ausbalancierte Druckzonen zu schmerzhaften Kompressionseffekten.

Die Notwendigkeit der Skolioseoperation ist durch die neusten Entwicklungen der konservativen Verfahren in den Hintergrund getreten. Größere Langzeitrisiken (24) müssen nach den neusten Erkenntnissen nur noch wenige Patienten eingehen. Eine Skolioseoperation ist nur in Ausnahmefällen erforderlich.

Zusammenfassung

Die spezifische nichtoperative Behandlung der Skoliose mit dem Fokus auf einer optimalen Korsettversorgung ist nach den neusten Erkenntnissen erfolgversprechend. Die neusten Entwicklungen lassen beste Ergebnisse bei geringer Patientenbeanspruchung erwarten. Eine Skolioseoperation ist nur in wenigen Einzelfällen gerechtfertigt.

Literatur

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  3. Cobb J. Outline for the study of scoliosis. AAOS, Instructional Course Lectures. 1948;5:261 – 75.
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  5. Goldberg CJ, Moore DP, Fogarty EE, Dowling FE. Adolescent idiopathic scoliosis: natural history and prognosis. Studies in health technology and informatics. 2002;91:59-63.
  6. Weinstein SL, Dolan LA, Spratt KF, Peterson KK, Spoonamore MJ, Ponseti IV. Health and function of patients with untreated idiopathic scoliosis: a 50-year natural history study. Jama. 2003;289(5):559-67.
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  8. Pehrsson K, Danielsson A, Nachemson A. Pulmonary function in adolescent idiopathic scoliosis: a 25 year follow up after surgery or start of brace treatment. Thorax. 2001;56(5):388-93.
  9. Lonstein J. Patient Evaluation. Moe’s Textbook of Scoliosis and Other Spinal Deformities. 1995:45 – 86.
  10. Lonstein J. Idiopathic scoliosis. Moe’s textbook of scoliosis and other spinal deformities. 1995:219 – 56.
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  12. Monticone M, Ambrosini E, Cazzaniga D, Rocca B, Ferrante S. Active self-correction and task-oriented exercises reduce spinal deformity and improve quality of life in subjects with mild adolescent idiopathic scoliosis. Results of a randomised controlled trial. European spine journal : official publication of the European Spine Society, the European Spinal Deformity Society, and the European Section of the Cervical Spine Research Society. 2014;23(6):1204-14.
  13. Weinstein SL, Dolan LA, Wright JG, Dobbs MB. Effects of bracing in adolescents with idiopathic scoliosis. The New England journal of medicine. 2013;369(16):1512-21.
  14. Kuru T, Yeldan I, Dereli EE, Ozdincler AR, Dikici F, Colak I. The efficacy of three-dimensional Schroth exercises in adolescent idiopathic scoliosis: A randomised controlled clinical trial. Clinical rehabilitation. 2015.
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  18. Weiss H, Goodall D. Rate of complications in scoliosis surgery – a systematic review of the Pub Med literature. Scoliosis. 2008;3:9.
  19. Weiss HR, Goodall D. Rate of complications in scoliosis surgery – a systematic review of the Pub Med literature. Scoliosis. 2008;3:9.
  20. Grauers A, Topalis C, Moller H, Normelli H, Karlsson M, Danielsson A, et al. Prevalence of Back Problems in 1069 Adults With Idiopathic Scoliosis and 158 Adults Without Scoliosis. Spine. 2014.
  21. Upasani VV, Caltoum C, Petcharaporn M, Bastrom TP, Pawelek JB, Betz RR, et al. Adolescent idiopathic scoliosis patients report increased pain at five years compared with two years after surgical treatment. Spine. 2008;33(10):1107-12.
  22. Weiss H-R, Moramarco M. Indication for surgical treatment in patients with adolescent Idiopathic Scoliosis – a critical appraisal. Patient safety in surgery. 2013;7(1):17.
  23. Westrick E, Ward W. Adolescent idiopathic scoliosis: 5-year to 20-year evidence-based surgical results. J Pediatr Orthop. 2011;31(1 Suppl):S61 – S8.
  24. Mueller F, Gluch H. Cotrel-dubousset instrumentation for the correction of adolescent idiopathic scoliosis. Long-term results with an unexpected high revision rate. Scoliosis. 2012;7(1):13.

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